29.12.2022 Redaktion arbeitsblog

AÜG-Evaluation: Ein „gemischtes Bild der Wirksamkeit“

  • Lange hat die Branche darauf gewartet, kurz vor dem Jahreswechsel war es soweit: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat die Ergebnisse der Evaluation des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) veröffentlicht.
  • Stolze 439 Seiten beträgt der Bericht. Darin werden mehrere Aspekte der AÜG-Reform beleuchtet, darunter die Überlassungshöchstdauer und das Thema Equal Pay. Auch erste Hinweise, wie eine Neugestaltung der problematischen Klauseln aussehen könnte, sind im Bericht enthalten.
  • Deuten die Ergebnisse darauf hin, dass schon bald eine weitere Anpassung des Gesetzes erfolgen könnte? Wir haben die zentralen Aussagen zusammengefasst.

Im Rahmen der AÜG-Evaluation wurden verschiedene Datenquellen genutzt, zum einen öffentlich zugängliche Statistiken, Befragungsdaten aus verschiedenen Quellen sowie Prozess- und Registerdaten. Zum anderen wurden verschiedene neue Datenerhebungen unter Zeitarbeitskräften, Betrieben sowie Branchenexperten durchgeführt.

Ergebnisse rund um die Tarifautonomie

Ein Bestandteil der AÜG-Reform ist die Regelung, dass Tarifpartner von einzelnen Gesetzesregelungen – etwa hinsichtlich der Überlassungshöchstdauer (ÜHD) und Equal Pay abweichen können. Die tarifvertragliche Basis liefert also Handlungsspielräume. Im Zuge der Evaluation wurde unter anderem festgestellt, dass die tariflichen Ausnahmeregelungen zum Teil sehr komplex und vielfältig sind – und somit auch nur bedingt miteinander vergleichbar.

Letztlich kommen die Autoren des Berichts zur folgenden Erkenntnis:

Insgesamt zeigt sich, dass eher von einem geringen Einfluss der AÜG-Reform auszugehen ist. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass keine reforminduzierten Effekte auf die Tarifautonomie, insbesondere nicht in Bezug auf die Entleihbetriebe, identifizierbar sind.

 

Bedeutung und Nutzung von Zeitarbeit

Im Rahmen der Evaluation wurden Daten zu unterschiedlichen Aspekten der Zeitarbeit und deren Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten erhoben und zusammengefasst. Dabei zeigte sich: Die schnelle Verfügbarkeit, der zeitlich begrenzte Bedarf sowie die Unsicherheit bzgl. der wirtschaftlichen Entwicklung sind die wichtigsten Gründe für Unternehmen, um auf Zeitarbeitskräfte zurückzugreifen. Daran hat sich mit der AÜG-Reform nicht geändert. Auch für Beschäftigte hat sich an der Motivation zur Nutzung von Zeitarbeit in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert:

Als ein zentrales Motiv für Leiharbeitskräfte in der Branche der Arbeitnehmerüberlassung beschäftigt zu sein, zeigt sich der Zugang zum Arbeitsmarkt. Zahlreiche Leiharbeitskräfte haben angegeben, die Beschäftigung in der Branche der Arbeitnehmerüberlassung aufgenommen zu haben, um sowohl Arbeitslosigkeit zu vermeiden als auch bestehende Arbeitslosigkeit zu beenden. Außerdem wird eine Beschäftigung in der Arbeitnehmerüberlassung als Vorstufe zu einem regulären, unbefristeten Beschäftigungsverhältnis gesehen und ebenfalls als Einstiegsmöglichkeit bei einem spezifischen Unternehmen bzw. Betrieb wahrgenommen.

 

Beschäftigungs- und Einsatzdauer von Leiharbeitskräften und ÜHD

Die Auswirkungen der AÜG-Reform auf die Überlassungshöchstdauer (ÜHD) sehen die Autoren des Berichts kritisch:

So ist erstens die gesetzliche ÜHD so großzügig ausgelegt, dass sie nur einen kleinen Teil der Einsätze vor der AÜG-Reform betroffen hat und damit ein Großteil der Einsätze vor der Reform schon der Kernfunktion der ÜHD entsprachen. Zudem können Regelungen im Sinne des Gesetzes getroffen werden, die einen dauerhaften Einsatz einer Leiharbeitskraft im gleichen Betrieb mit mehr als dreimonatiger Pause oder auf Dauer angelegte rotierende Einsätze in Tochterunternehmen ermöglichen.

 

Muss also die gesetzliche ÜHD schon von vornherein als zahnloser Tiger angesehen werden, so verstärkt sich dieser Eindruck noch weiter, wenn die tariflichen Ausnahmeregelungen berücksichtigt werden. Zwar werden sie lange nicht so häufig angewendet, wie in den Medien befürchtet; sie ermöglichen jedoch spezifische, lange Einsätze auch nach der AÜG-Reform weiterzuführen bzw. neu zu beginnen. Zudem scheinen die tariflichen Ausnahmeregelungen die Tarifbindung der Entleihbetriebe nicht zu erhöhen, aber zu einem Verwaltungsaufwand bei den Verleihbetrieben zu führen.

 

Die Einsatzdauern werden von der AÜG-Reform und insbesondere von der gesetzlichen ÜHD in dem Maße beeinflusst, dass es weniger lange und weniger kurze Einsätze gibt; die mittlere Einsatzdauer aber abnimmt. Dahingehend hat die AÜG-Reform eine Wirkung. […] Die allgemeine Reduzierung von Einsatzdauern, insbesondere auf unter sechs Wochen und auf unter neun Monate ist wohl auch von den Regelungen zum Equal Pay beeinflusst, da durch kürzere Einsatzdauern Lohnsteigerungen vermieden werden. Den größten Effekt hat die AÜG-Reform einmalig auf sehr lange Einsätze gehabt; diese wurden größtenteils beendet.

 

[…] Damit scheint sich insgesamt herauszukristallisieren, dass die Wirkungen der AÜG-Reform, insbesondere der gesetzlichen ÜHD auf die Einsatz- und Beschäftigungsdauern auf der einen Seite nur teilweise erreicht werden, es aber auf der anderen Seite viele ungewollte Effekte gibt, die einen kohärenten Reformeffekt verhindern.

 

Vor allem der letzte Satz wirft die Frage auf, ob nun schon bald die nächste Reform des Gesetzes folgen könnte, um den genannten ungewollten Nebeneffekten entgegenzuwirken. Doch wie könnte diese aussehen? Auch hierzu versteckt sich ein erster Hinweis im Endbericht:

Einer Reduzierung der gesetzlichen ÜHD würde mehr Einsätze betreffen. Damit dies aber auch langfristig bei Leiharbeitskräften zu einer Übernahme in den Einsatzbetrieb führen kann, braucht es andere Maßnahmen. So könnten die Sperrfristen verlängert werden, damit die Wiedereinstellung einer Leiharbeitskraft unvorteilhafter wird. Wenn es schon tarifliche Ausnahmeregelungen geben soll, dann könnten diese an ein Übernahmeangebot geknüpft werden, um lange eingesetzten Leiharbeitskräften trotzdem eine Perspektive geben zu können. Den Verleihbetrieben wäre dagegen schon geholfen, wenn die tariflichen Ausnahmeregelungen vereinheitlicht werden würden, quasi als gesetzliche Option. Die Reduzierung von Bürokratie allgemein bzw. die Rücknahme einiger Regelungen wie Schriftform, Informationspflicht, Festhaltenserklärung etc. könnte zu einer Zunahme sehr kurzer Einsätze führen. Zu guter Letzt würde die Einführung eines strikten Equal Pay ab dem ersten Einsatztag die impliziten ÜHD-Grenzen eliminieren.

 

Entlohnung und Equal Pay

Auch im Hinblick auf Equal Pay zeigt die Evaluation noch Nachbesserungsbedarf. Laut Bericht konnte die Lücke zwischen Stammbeschäftigten und Zeitarbeitskräften in Bezug auf gleiche Bezahlung bisher nicht geschlossen werden:

Die AÜG-Reform fordert Equal Pay ab dem ersten Tag, aber schon durch die Tatsache, dass so gut wie jede Leiharbeitskraft einem Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche unterliegt, führt dazu, dass dies grundsätzlich erst ab dem neunten Monat bzw. bei Bezahlung nach BZTV sogar erst nach 15 Monaten der Fall ist, wobei der TV festlegt, was unter einem gleichwertigen Entgelt zu verstehen ist. […] Dies bedeutet, dass Equal Pay ab dem ersten Tag die Ausnahme darstellt, während für die Mehrheit der Leiharbeitskräfte die „Ausnahmeregelungen“ die Regel darstellen.

 

In der Tat hat sich der anfängliche Lohn durch die AÜG-Reform bei von EP betroffenen Leiharbeitskräften nicht stärker verbessert. Im Gegenteil: Leiharbeitskräfte, die länger als neun Monate im Einsatz sind und nicht nach BZTV entlohnt werden, verdienen am Anfang ihres Einsatzes durch die AÜG-Reform nun weniger als vor der AÜG-Reform und nach BZTV bezahlte Leiharbeitskräfte. Nach sechs Wochen sowie nach neun und 15 Monaten kann zumindest bei Einsätzen mit BZTV im Mittel ein Lohnanstieg durch die AÜG-Reform aus Sicht der Verleihbetriebe ermittelt werden. Verleihbetriebe, die vorwiegend keine Einsätze mit BZTV vermitteln, berichten nur schwach signifikant häufiger von gestiegenen Löhnen für Leiharbeitskräfte nach neun Monaten.

 

Doch wie könnte eine Verbesserung der Situation von Zeitarbeitskräften erreicht werden? Hier sehen die Verfasser einen Konflikt, wenn es um die Tarifautonomie geht:

Um die Entlohnung der Leiharbeitskräfte wirksam zu verbessern, wäre es notwendig, eine größere Gruppe der Leiharbeitskräfte zu erreichen, d.h. die Betroffenheit zu erhöhen und die (tariflichen) Ausnahmeregelungen stärker einzugrenzen oder zu beenden. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Schaffung tarifvertraglicher Ausnahmeregelungen dazu geführt hat, dass sich die Entlohnung für Leiharbeitskräfte mit langen Einsätzen im Mittel nicht signifikant verbessert hat. Die Tarifautonomie steht hier im Interessenskonflikt mit einer besseren Entlohnung für Leiharbeitskräfte.

 

Gesamtbewertung

Auch das übergreifende Fazit fällt eher pessimistisch aus. Die Autoren des Berichts identifizieren mehrere Konflikte, die die Wirksamkeit der Reform in der Praxis verhindern:

Insgesamt zeichnen die hier vorgelegten Ergebnisse ein gemischtes Bild der Wirksamkeit der jüngsten AÜG-Reform im Hinblick auf die Erreichung ihrer Ziele. Zum einen gehen die Neuregelungen aufgrund ihrer hohen Komplexität mit einem hohen Aufwand bei der Implementation und mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit einher. […] Die gewollte Stärkung der Tarifautonomie hat hierbei ebenfalls einen Teil dazu beigetragen, dass Regelungen nun komplexer und fragmentiert sind. Die Tarifbindung selbst hat sich durch die AÜG-Reform nur bei den Verleihbetrieben leicht erhöht.

 

Die Wirkungen der beiden prominenten Regelungen der AÜG-Reform, der ÜHD und des Anspruchs auf EP, gehen allerdings weitgehend ins Leere, da sie nur wenige Leiharbeitskräfte betreffen. Die Ursachen hierfür sind einerseits die zu geringe tatsächliche Dauer der Leiharbeitseinsätze, andererseits die aus Gründen der Stärkung der Tarifautonomie gewünschte Möglichkeit, per Tarifvertrag von den ansonsten im Gesetzestext vorgesehenen Regelungen zur ÜHD und zu EP abweichen zu können. […]

 

Diese Betrachtungen machen deutlich, dass in die jüngste Reform des AÜG auch gewisse Zielkonflikte eingeflossen sind, die eine potenziell größere Wirksamkeit der Neuregelung verhindern. […] Ohne diese Konflikte aufzulösen, erscheint es schwierig, die Situation des Großteils der Leiharbeitskräfte dauerhaft zu verbessern.


Den kompletten Endbericht zur Evaluation des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes können Sie auf der BMAS-Website kostenlos als PDF-Datei herunterladen.

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