01.03.2022

„Die Zeitarbeitsbranche ist ein relevanter Bereich – sie kommt zurück“

  • Im vergangenen Jahr führte die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Germany eine Studie durch, in der die Zeitarbeit genau beleuchtet wird: Welche Folgen hat die Corona-Pandemie? Mit welchen Erwartungen blickt die Branche in die Zukunft?
  • „Licht am Ende des Tunnels“: So lautet der Titel Studie. Demnach sind Personaldienstleistungsfirmen optimistisch gestimmt und gehen von einem Wachstum in diesem sowie den kommenden Jahren aus.
  • Wir haben mit Dr. Ralph Niederdrenk, Partner bei PwC Germany und Experte auf dem Gebiet der Zeitarbeit, gesprochen. Teilt er die Einschätzung der für die Studie befragten Zeitarbeitsunternehmen? Oder kommt er aufgrund seines Hintergrundwissens zu ganz anderen Schlussfolgerungen?

arbeitsblog: Kurzarbeit, Entlassungen, Umsatzrückgänge: Die Zeitarbeit wurde hart von der Pandemie getroffen. Wie hat das die Branche beeinflusst, Dr. Niederdrenk?

Dr. Ralph Niederdrenk: Massiv, es gab einen deutlichen Rückgang in allen genannten Bereichen. Einen solchen haben wir schon einmal beobachtet – in der Finanzkrise 2008/2009 –, allerdings handelte es sich damals eher um einen Frühindikator: Erste Stornierungen von Zeitarbeitsaufträgen gab es bereits 2008. Diesmal hingegen hatten wir viel mehr „Ad hoc“-Stornierungen, weil sich alles so schnell entwickelt hat. Im Februar 2020 wurden wir sensibilisiert – und im März kam schon der erste Lockdown. In allen Sektoren der Wirtschaft herrschte eine Schockstarre, keiner wusste so recht, in welche Richtung es geht – es waren schwierige Wochen mit viel Panik. Das hat wiederum zu sehr vielen Stornierungen geführt. Ich gehe davon aus, dass es im Bereich der Zeitarbeit allein im März und April Rückgänge von bis zu 70 Prozent gab. Über das Jahr hinweg hat sich das bei schätzungsweise 20 bis 30 Prozent eingependelt. Im Jahr 2021 lief es wiederum etwas besser, denn die Industrie hatte langsam gelernt, mit der Pandemie sowie der neuen Situation umzugehen.

Auch ganz neue Bedarfe haben sich in der Zeit ergeben, Stichwort Testzentren. Das war aber in der Gesamtbetrachtung überschaubar und nicht ausreichend, um den allgemeinen Rückgang auszugleichen.

– Dr. Ralph Niederdrenk

Dr. Ralph Niederdrenk (Foto: PwC Germany)

arbeitsblog: Gab es denn auch Bereiche innerhalb der Zeitarbeit, die von der Pandemie profitiert haben?

Dr. Ralph Niederdrenk: Um das zu beurteilen, muss man sich im ersten Schritt die Ziele der Branche ansehen: Die Zeitarbeit unterstützt zum einen Unternehmen, die ihre Personalkosten flexibler gestalten wollen. Zum anderen dient sie natürlich auch dazu, Peaks auszugleichen. Und genau diese gab es zu Beginn der Pandemie im Allgemeinen nicht. Aber genauso gab es auch Branchen, in denen es überproportional gut lief – davon hat dann unter anderem die Zeitarbeit profitiert. Hier ist zum Beispiel die Logistik zu nennen und alles, was mit Paketdiensten oder E-Commerce zu tun hat. Auch ganz neue Bedarfe haben sich in der Zeit ergeben, Stichwort Testzentren. Das war aber in der Gesamtbetrachtung überschaubar und nicht ausreichend, um den allgemeinen Rückgang auszugleichen – aber zumindest hat es ihn abgeschwächt.

arbeitsblog: Welchen Eindruck vermittelt die Zeitarbeitsbranche aus Ihrer Sicht nach knapp zwei Jahren Pandemie?

Dr. Ralph Niederdrenk: Das ist schwierig zu beantworten. Der Markt versucht immer noch durchzuatmen. Unternehmen, die sich etwa auf die Vermittlung von medizinischem Personal spezialisiert haben, geht es aktuell logischerweise sehr gut. Insgesamt betrachtet kann man sagen: Je spezialisierter ein Zeitarbeitsunternehmen ist und je weiter weg es sich von der Autoindustrie befindet, umso besser geht es ihm.

arbeitsblog: Würden Sie sagen, die vergangenen zwei Jahre haben auch tiefergehende strukturelle Veränderungen hervorgerufen?

Dr. Ralph Niederdrenk: Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilen. Denn die Zeitarbeit hat letztlich stark mit „Walking Assets“ zu tun. Wir haben hier schon viele Insolvenzen von Unternehmen beobachtet, die es aus verschiedenen Gründen einfach nicht gepackt haben, aber daraus haben sich wiederum neue Teams geformt und selbstständig gemacht. Wenn man also in struktureller Sicht auf die Zeitarbeit blickt und wie sie sich in den letzten 15 bis 20 Jahren entwickelt hat, so ist die Anzahl der Player relativ konstant geblieben – entweder sind kleinere Firmen von größeren Unternehmen aufgekauft worden – oder es gab Neugründungen.

Nach den Rückschlägen wird es einen Turnaround geben, zurück zum Wachstum. Wenn man auf die vergangenen 20 Jahre blickt, erkennt man eine Wellenbewegung – und auch dieses Mal wird es wieder aufwärts gehen.

– Dr. Ralph Niederdrenk

arbeitsblog: Allen Herausforderungen zum Trotz blicken laut PwC-Studie viele Unternehmen positiv in die Zukunft und erwarten Umsatzzuwächse. Teilen Sie diese Einschätzung?

Dr. Ralph Niederdrenk: Die Befragungen dazu liegen bereits einige Monate zurück. Damals hatten wir einige Themen noch nicht auf der Agenda, die in den letzten Monaten voll eingeschlagen haben und die Branche auch in den kommenden Monaten beschäftigen werden – zum Beispiel die Lieferkettenproblematik oder die Knappheit an Rohstoffen. Das wird sich auch auf das geplante Wachstum auswirken. Laut aktuellen Prognosen wird dieses nicht so stark ausfallen wie zunächst angenommen – auch in der Zeitarbeit nicht. Grundsätzlich teile ich die Meinung, die in der Studie auch vertreten wird: Die Branche wird wieder wachsen. Meiner Ansicht nach wird es allerdings etwas länger dauern, bis das „Pre-Covid“-Niveau erreicht ist. Ich schätze, das wird eher 2023/24 der Fall sein – unter anderem auch deswegen, weil neue Probleme hinzukommen können. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass nach wie vor ein großer Teil der Zeitarbeitskräfte in der Automobilindustrie und im Bereich derer Wertschöpfungskette beschäftigt ist. Die Autoindustrie wird sich einer Tatsache stellen müssen: Der dort stattfindende Transformationsprozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Wir werden voraussichtlich strukturelle Umbrüche in der Zulieferlandschaft sehen, sodass auch der Bedarf an Zeitarbeitskräften aller Voraussicht nach nicht auf das Niveau von etwa 2018 steigen wird.

arbeitsblog: Rückgänge gab es in der Zeitarbeit allerdings schon vor Corona. Wie schätzen Sie es ein: Erlebt die Zeitarbeitsbranche nach den Rückgängen der vergangenen Jahre nun einen Turnaround? Und was braucht es dazu?

Dr. Ralph Niederdrenk: Nach den Rückschlägen wird es einen Turnaround geben, zurück zum Wachstum. Wenn man auf die vergangenen 20 Jahre blickt, erkennt man eine Wellenbewegung – und auch dieses Mal wird es wieder aufwärts gehen, allerdings nicht vor 2023. Das liegt auch daran, dass die Lieferkettenproblematik sich nicht nur auf die Autoindustrie auswirkt, sondern auch gesamtwirtschaftliche Folgen haben wird. Die Zeitarbeitsbranche ist aber ein relevanter Bereich – sie kommt zurück.

arbeitsblog: Welche Bereiche der Zeitarbeit dürften bereits 2022 besonders glänzen?

Dr. Ralph Niederdrenk: Die Vermittlung von Ärzten und Pflegekräften zählt auf jeden Fall dazu, genau wie die Baubranche. Letztere leidet an einer massiven Unterversorgung – und zwar in allen Gewerken. Auch die Logistik und der Güterverkehr sind attraktive Branchen. Alles außerhalb von Automotive und Tourismus (inklusive Gastronomie) ist wahrscheinlich auf einem guten Weg. Zusammenfassend würde ich sagen, dass die Zeitarbeit vermutlich etwas später wieder anfangen wird zu wachsen, als in unserer Studie angenommen, aber ich gehe davon aus, dass der Talboden durchlaufen worden ist.

arbeitsblog: Gibt es weitere Themen, die in den kommenden Jahren prägend für die Personaldienstleistung sein werden?

Dr. Ralph Niederdrenk: Aus meiner Sicht ist Digitalisierung ein essenzielles Thema – und hierzulande wird es derzeit noch viel zu stark vernachlässigt. Die Gründe dafür sind vielseitig. Zum einen meinen viele, vor Ort kontrollieren zu müssen, ob die Arbeitskräfte tatsächlich zu ihren Einsätzen auftauchen. Zum anderen liegt es auch daran, dass die Branche vermeintlich erfolgreich ist, so wie sie ist. Nicht zuletzt wird meines Erachtens Digitalisierung in der Zeitarbeit immer noch mit der Automatisierung von Prozessen und dem reinen Einsatz von Software verwechselt. Meiner Meinung nach liegt die Zeitarbeit ungefähr 15 Jahre zurück hinter dem, was möglich ist. Ich warte immer noch auf den Spieler, der diesen Markt revolutioniert und langfristig zum Umdenken bewegt – weg vom Gedanken, dass es ein Niederlassungsnetzwerk mit entsprechenden Büros vor Ort braucht, hin zu einer schlanken Plattform, die Angebot und Nachfrage verbindet. Ich bin überzeugt, dass irgendwann jemand mit einem neuen Konzept kommt und mit einer Plattformstrategie den vermeintlich tradierten Markt aufräumt. Die Vorteile liegen aus ökonomischer Sicht einfach auf der Hand und der Markt schreit danach.

arbeitsblog: Vielen Dank für das spannende Interview, Dr. Niederdrenk!


Dr. Ralph Niederdrenk

Dr. Ralph Niederdrenk ist Partner bei PwC Germany. Der 52-Jährige verantwortet den Bereich Deals Strategy und berät mit seinem Team Unternehmen in Zusammenhang mit strategischen Entscheidungen. Zu Dr. Niederdrenks thematischen Schwerpunkten gehört unter anderem die Zeitarbeit. Bereits seit 2001 setzt sich der Experte mit der Branche auseinander und hat bereits viele ihrer Höhen und Tiefen miterlebt.

 

Die Studie „Zeitarbeitsbranche aktuell 2021: Licht am Ende des Tunnels“ steht auf der PwC-Homepage als PDF-Datei zum Download bereit.

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