28.11.2023

„Durch die Zeitarbeit kann die Stammbelegschaft deutlich entlastet werden, sofern Regeln eingehalten werden“

  • Der Fachkräftemangel in der Pflege ist ein allgegenwärtiges Thema. Immer mehr Beschäftigte wandern in die Zeitarbeit ab, da sie dort teilweise bessere Konditionen und mehr Sicherheiten bekommen.
  • Für die Einrichtungen wiederum ist Zeitarbeit ein zweischneidiges Schwert. Denn sie trägt zur Entlastung der Stammbelegschaft bei, verursacht jedoch gleichzeitig höhere Kosten. In der Folge wird die Diskussion rund um ein mögliches Verbot der Zeitarbeit in der Pflege immer wieder angefacht.
  • Prof. Dr. Lutz Bellmann, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsökonomie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Forscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, ordnet die aktuelle Situation ein und teilt mit uns seine Expertenmeinung.

arbeitsblog: Herr Prof. Dr. Bellmann, die Pflegebranche ist in besonderem Maße vom Fachkräftemangel betroffen. Laut Angaben des Deutschen Pflegerates fehlen in Deutschland über 200.000 Pflegekräfte, weshalb oft auf Zeitarbeitskräfte zurückgegriffen wird – mit einem teilweise erheblichen Mehrkostenaufwand (deutschlandweit derzeit mehr als 606 Millionen Euro), verglichen mit festen Anstellungsverhältnissen. Wie bewerten Sie diese Tatsache?

Prof. Dr. Lutz Bellmann

Prof. Dr. Lutz Bellmann: Wenn die Betriebe ihren Personalbedarf nicht decken können, so haben sie mehrere Möglichkeiten, um die Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden attraktiver zu gestalten – sei es durch höhere Gehälter, mehr Urlaubsanspruch, Prämien oder andere Boni wie etwa ergänzende Sport- und Freizeitangebote. Auch das ist mit einem erheblichen finanziellen Mehraufwand verbunden, insbesondere dann, wenn die verbesserten Bedingungen allen Mitarbeitenden und nicht nur den neueingestellten zugutekommen sollen. Insofern muss man diese 606 Millionen an Mehraufwand eben den Kosten gegenüberstellen, die durch eine Umgestaltung der Arbeitsbedingungen entstehen würden.

arbeitsblog: Bleiben wir beim Thema Arbeitsbedingungen ändern. Viele Pflegekräfte wechseln zur Zeitarbeit – aus verschiedenen Gründen. Sie werden einerseits besser bezahlt und erhalten andererseits nach eigenen Angaben eine höhere Wertschätzung. Zudem können sie sich die Schichten aussuchen und sich auf den Dienstplan verlassen. Warum ändern die Einrichtungen ihrer Meinung nach nicht einfach die Arbeitsbedingungen für ihre Stammbeschäftigten und brechen so aus dem Teufelskreis aus?

Prof. Dr. Lutz Bellmann: Zum einen sind die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie erwähnt oftmals mit Mehrkosten verbunden. Zum anderen gibt es in der Pflege auch einige Bereiche, in denen sich die Suche nach geeigneten Arbeitskräften so schwierig gestaltet, dass die Schließung von ganzen Abteilungen zur Debatte steht. Gerade in solchen Fällen kann die Zeitarbeit zu einer erheblichen Entlastung beitragen. Allerdings muss man auch erkennen, dass es zu Konflikten zwischen dem Stammpersonal und den Zeitarbeitnehmenden kommen kann. Diese können vermieden werden, wenn klare Regeln für den Einsatz von Fachkräften aus der Zeitarbeit aufgestellt werden. Die Regelungen können zum Beispiel vorsehen, dass Zeitarbeitnehmende nur in den Lücken eingesetzt werden, die bei der Dienstplanung entstehen. Ein weiteres Beispiel ist eine gute Einarbeitung für den ersten Einsatz, damit die neuen Mitarbeitenden wissen, welche Besonderheiten bei den zu Pflegenden beachtet oder welche Medikamente verabreicht werden müssen. So wird die Stammbelegschaft auch wirklich entlastet und nicht durch zusätzliche Einarbeitung der Zeitarbeitnehmenden gefordert.

Die Zeitarbeit kann in beidseitigem Interesse von Beschäftigten und Einrichtungen sein kann, insofern klare Regeln eingehalten werden.

– Prof. Dr. Lutz Bellmann

arbeitsblog: Zurzeit wird viel über die Abschaffung der Zeitarbeit in der Pflege diskutiert. Das wiederum könnte dazu führen, dass viele Pflegekräfte in andere Bereiche wechseln und somit komplett wegfallen. Gleichzeitig muss man aber auch im Blick behalten: Aktuelle Studien besagen, dass lediglich 1,9 Prozent aller Beschäftigten in Pflegeberufen über Zeitarbeit angestellt sind. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?

Prof. Dr. Lutz Bellmann: Der Anteil der Zeitarbeitnehmenden wird von den Verbänden, der Bundesagentur für Arbeit und vom Statistischen Bundesamt übereinstimmend im niedrigen einstelligen Bereich angesiedelt. Gemessen an der Gesamtzahl der Pflegekräfte ist der Anteil der Zeitarbeitnehmenden trotz des jüngsten Anstiegs noch sehr gering. Überhaupt gab es seit der Novellierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes 2017 einen branchenübergreifenden Rückgang der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Zeitarbeit. Die Novellierung hat die Bedingungen zum Einsatz von Zeitarbeitnehmenden insgesamt anspruchsvoller gestaltet, sodass auch die Entwicklung der Zeitarbeit erwartbar begrenzt sein wird. Das liegt im Wesentlichen daran, dass seit 2017 die 18-monatige Höchstüberlassungsdauer, nach neun Monaten das gesetzliche und nach 15 Monaten das tarifliche Equal Pay gilt. Das alles hat erheblichen bürokratischen Aufwand, kostenintensive IT-Umstellungen und Schulungen gefordert, sodass die Entwicklung nicht durch die Decke gehen wird.

arbeitsblog: Wie wird es mit der Zeitarbeit in der Pflege weiter gehen?

Prof. Dr. Lutz Bellmann: Ich kann zwar keine genaue Prognose abgeben. Doch ich bin schon der Meinung, dass die Zeitarbeit in beidseitigem Interesse von Beschäftigten und Einrichtungen sein kann, insofern klare Regeln eingehalten und beachtet werden.

Abschließend möchte ich auf ein Thema eingehen, das mir sehr am Herzen liegt. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, dass sich die Betriebe für die Weiterbildung von Arbeitnehmenden engagieren. Das gilt auch für die Zeitarbeitenden und erleichtert ihren Einsatz in allen Tätigkeitsbereichen, was zu erhöhten Übernahmechancen von Beschäftigten von der Zeitarbeit in die Stammbelegschaft führt. Ich sehe auch riesige Möglichkeiten in der Zeitarbeit durch die Migration, die wir erleben oder erlebt haben. Ich denke, dass die Zeitarbeitsbranche unterstützen kann, die Potenziale auszuschöpfen.

arbeitsblog: Vielen Dank für das Gespräch!


Prof. Dr. Lutz Bellmann war von 2009 bis 2021 Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsökonomie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem ist er seit Anfang 2022 Professor an der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Torún. Bereits seit 1988 ist Bellmann am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) tätig.

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