„In Phasen mit Gegenwind entsteht der notwendige Katalysator, um Strukturen ehrlich zu hinterfragen.“
- Der Gesamtverband der Personaldienstleister (GVP) hat in Zusammenarbeit mit dem Softwareanbieter zvoove die Branchenstudie „Industry Pulse 2026“ gestartet, um herauszufinden, wo die Personaldienstleistungsbranche heute steht, wo Handlungsbedarf besteht und was sie voranbringt.
- Im arbeitsblog-Interview erläutert Jens Issel, Leiter Marketing & Mitgliederinteraktion beim GVP, warum es gerade jetzt einen belastbaren Referenzrahmen für Digitalisierung, KI und Effizienz braucht.
- Im Gespräch macht Issel deutlich, wo der größte Handlungsdruck liegt, welche Fehleinschätzungen Unternehmen aktuell ausbremsen und warum Zukunftsfähigkeit weniger eine Frage von Tools als von Haltung und Führung ist.
arbeitsblog: Jens, der Industry Pulse läuft: Was war aus deiner Sicht der Auslöser, die Studie erneut aufzusetzen, und was soll sie der Branche liefern, bevor Ergebnisse überhaupt veröffentlicht werden?
Jens Issel: Der Auslöser war ein wachsendes Orientierungsdefizit in der Branche. Viele Unternehmen spüren sehr genau, dass sich Rahmenbedingungen strukturell verändern – wirtschaftlich, technologisch, regulatorisch –, aber es fehlt ein belastbarer Referenzrahmen, um das eigene Handeln einzuordnen.
Der Industry Pulse soll genau das leisten. Noch bevor Ergebnisse veröffentlicht werden, zwingt er zur Selbstverortung: Wo stehen wir wirklich? Wie zukunftsfähig sind unsere Strukturen? Welche Themen können wir nicht länger aufschieben? Es geht bewusst nicht um Bewertung oder Ranking, sondern um Orientierung, Reflexion und konkrete Arbeitsaufträge für die kommenden Jahre.
arbeitsblog: Die Personaldienstleistung steht unter Druck: Konjunktur, Kostendynamik, Regulatorik, Image. Warum ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, strukturiert auf Digitalisierung und KI zu schauen?
Jens Issel: Weil Druck Veränderung erzwingt. In Phasen mit Gegenwind entsteht der notwendige Katalysator, um Strukturen ehrlich zu hinterfragen. Digitalisierung und KI sind dabei keine Zukunftsversprechen, sondern Werkzeuge, um Effizienz, Qualität und Servicefähigkeit abzusichern. Kurzfristig erfordern sie Investitionen – vor allem Zeit und Aufmerksamkeit. Langfristig entscheiden sie über Wettbewerbsfähigkeit. Wenn die Konjunktur wieder anzieht, wird dieser Raum nicht mehr da sein.
Der Wettbewerb verschiebt sich spürbar: Es geht nicht mehr nur um Bewerber*innen und Kund*innen, sondern um Effizienz, Schnelligkeit, Genauigkeit, Klarheit und Individualisierung. Wer hier nicht vorbereitet ist, verliert Anschluss.
Die größte Fehleinschätzung ist der Glaube, man könne sich Zeit lassen. Digitalisierung ist kein Projekt mit Enddatum, sondern ein kontinuierlicher Prozess.
arbeitsblog: Wo beobachtest du aktuell den größten Handlungsdruck für Unternehmen: im Recruiting, im Vertrieb, in der Abrechnung/Administration oder eher im Zusammenspiel aus allem?
Jens Issel: Der größte Handlungsdruck liegt eindeutig im Zusammenspiel. Die größten Effizienzverluste entstehen an den Schnittstellen zwischen Recruiting, Vertrieb, Disposition und Abrechnung. Viele Unternehmen optimieren einzelne Bereiche, ohne das Gesamtsystem mitzudenken. Hinzu kommt, dass das Potenzial von Automatisierungen über Systemgrenzen hinweg oft unterschätzt wird. Es geht weniger um einzelne Tools als um durchgängige Prozesse.
Gleichzeitig ist die Branche extrem heterogen. Größe, Struktur und Spezialisierung bestimmen Tempo und Tiefe der Veränderungen. Deshalb gibt es keinen Standardweg, sondern unterschiedliche Ausgangslagen, die berücksichtigt werden müssen.
arbeitsblog: Viele Unternehmen spüren: „Wir müssen effizienter werden.“ Gleichzeitig fehlt im Tagesgeschäft oft die Zeit, strategisch zu arbeiten. Welche Fehleinschätzungen siehst du aktuell am häufigsten, wenn es um Digitalisierungsvorhaben geht?
Jens Issel: Die größte Fehleinschätzung ist der Glaube, man könne sich Zeit lassen. Digitalisierung ist kein Projekt mit Enddatum, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Verlorene Zeit, insbesondere bei Kompetenzaufbau und Haltung, lässt sich später nicht mehr aufholen.
Eine weitere Fehleinschätzung ist, mit bestehenden Strukturen und Kompetenzen einfach weitermachen zu wollen. Rollen verändern sich, Aufgaben verschwinden, neue entstehen. Das erfordert Entwicklung, Weiterbildung und vor allem einen Mindset-Shift. Und dieser Shift lässt sich nicht durch mehr Budget oder zusätzliche Ressourcen beschleunigen, weil er mit Menschen zu tun hat.
arbeitsblog: Wie verändert sich aus deiner Sicht die Erwartungshaltung auf Kundenseite: Was wird von Personaldienstleistern 2026 erwartet und was verliert an Bedeutung?
Jens Issel: Die Erwartungshaltung ist sehr unterschiedlich und stark abhängig von Größe, Struktur und Reifegrad der Kund*innen. Gleichzeitig greift das Argument „Das wollen unsere Kund*innen nicht“ zu kurz.
Unsere Gespräche und frühere Ergebnisse zeigen klar: Gute Preise in Kombination mit hoher Qualität und verlässlichem Service stoßen kaum auf Ablehnung. An Bedeutung verlieren Intransparenz, Medienbrüche und technologische Hypes ohne echten Mehrwert. Kund*innen wollen keine Buzzwords, sondern pragmatische Lösungen, die ihre Abläufe vereinfachen. Erwartet werden Klarheit, Geschwindigkeit, Verlässlichkeit und eine professionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Vorausgesetzt, beide Seiten sind anschlussfähig.
arbeitsblog: KI wird oft als Heilsversprechen oder als Risiko diskutiert. Was wäre aus Verbandssicht eine realistische, professionelle Haltung dazu, insbesondere im Recruiting?
Jens Issel: Eine professionelle Haltung liegt in der Kombination aus Mensch, KI und Automatisierung. Die eigentliche Wirkung entsteht weniger durch die KI selbst als durch ihr Zusammenspiel mit klaren Prozessen.
Gleichzeitig wird oft unterschätzt, dass auch KI viel Analyse, Struktur und kontinuierliche Optimierung erfordert. Sie reduziert nicht automatisch Komplexität, sondern verlagert Verantwortung. Wer KI sinnvoll einsetzen will, braucht Klarheit über Ziele, Prozesse und Rollen. Alles andere bleibt Experiment ohne nachhaltige Wirkung.
arbeitsblog: Welche Rolle spielt Führung bei der Frage, ob Digitalisierung gelingt?
Jens Issel: Eine zentrale. Digitalisierung scheitert selten an der Technologie, sondern an der Führung, beziehungsweise an Haltung, Entscheidungslogik und mangelnder Orientierung. Führung bedeutet in diesem Kontext nicht, alles zu wissen, sondern den Rahmen zu setzen: Neugier ermöglichen, Lernen zulassen, Verantwortung übergeben. Ohne diese Haltung bleiben digitale Initiativen isoliert. Mit ihr entsteht Selbstwirksamkeit und genau die entscheidet darüber, ob Veränderung getragen wird oder verpufft.
arbeitsblog: In vielen Betrieben gibt es Unsicherheit: Was darf KI, was muss transparent gemacht werden, was ist mit Datenschutz? Welche Leitplanken sind aus deiner Sicht 2026 entscheidend, damit Unternehmen handlungsfähig bleiben?
Jens Issel: Das ist ein schwieriges Spannungsfeld. Auf der einen Seite stehen Gesetze, Richtlinien und Datenschutzanforderungen, auf der anderen der berechtigte Wunsch nach Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit, auch im internationalen Vergleich. Entscheidend ist ein pragmatischer Mittelweg: klare Leitplanken, Transparenz dort, wo sie notwendig ist, und gleichzeitig Mut, Neues auszuprobieren. Ohne Pragmatismus verlieren wir Anschluss, ohne Regeln verlieren wir Vertrauen. Beides muss gemeinsam gedacht werden.
Wer heute andere Sorgen hat und Zukunftsthemen ausklammert, wird morgen sehr wahrscheinlich größere haben – oder perspektivisch gar keine mehr, weil aktive Marktteilnahme kaum noch möglich ist.
arbeitsblog: Warum sollte ein Personaldienstleister teilnehmen, der gerade sagt: „Wir haben andere Sorgen“? Was ist der Nutzen, auch ohne direkte „Benchmark“-Ambitionen?
Jens Issel: Gerade dann ist die Teilnahme sinnvoll. Wer heute andere Sorgen hat und Zukunftsthemen ausklammert, wird morgen sehr wahrscheinlich größere haben – oder perspektivisch gar keine mehr, weil aktive Marktteilnahme kaum noch möglich ist.
Der Industry Pulse ist kein Benchmark-Zwang, sondern ein Instrument zur Selbstverortung. Er hilft, Prioritäten zu klären, blinde Flecken zu erkennen und Orientierung zu gewinnen – unabhängig von Größe oder Reifegrad.
arbeitsblog: Wenn du eine Botschaft an die Branche formulieren müsstest: Was sollte 2026 unbedingt auf die Agenda und was kann man streichen, weil es nur ablenkt?
Jens Issel: Zukunftsfähigkeit gehört ganz nach oben auf die Agenda. Es geht nicht darum, auf eine Rückkehr zur alten Normalität zu hoffen, sondern aktiv Lösungen zu entwickeln. Streichen kann man Ablenkungsdebatten und reines Problemdenken. Entscheidend ist eine konstruktive Haltung: neugierig, lernbereit und gestaltend. Mindset und Selbstwirksamkeit werden darüber entscheiden, wer 2026 handlungsfähig bleibt.
arbeitsblog: Vielen Dank für das Gespräch!