Rückschau auf das Jahr 2022 und Ausblick auf das Jahr 2023

  • Zu Beginn des neuen Jahres wirft Dr. Alexander Bissels einen Blick auf 2022 – ein Jahr, das für die Zeitarbeit mit zahlreichen Impulsen aus der Rechtsprechung verbunden war – von der Entscheidung des BAG zur Überlassungshöchstdauer bis hin zum aktuellen Urteil des EuGH zu den Anforderungen bei einer Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz.
  • Der Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Hasche Sigle blickt zudem nach vorn – auf das, was die Zeitarbeit im Jahr 2023 beschäftigen wird. In arbeitsrechtlicher Hinsicht dürften insbesondere die Erkenntnisse aus der Evaluation zur Anwendung des AÜG, der Fortgang der Verhandlungen über die geplante Zusammenführung von BAP und iGZ sowie die Umsetzung der Entscheidung des EuGH zum Gleichstellungsgrundsatz durch das BAG interessant und unter Umständen folgenreich für die Branche werden.

Was hat das Jahr 2022 gebracht?

Während sich die (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Coronapandemie im Jahr 2022 abschwächten, stand die nächste Krise für die Arbeitnehmerüberlassungsbranche (und nicht nur für diese) ins Haus, nämlich bedingt durch den Überfall Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehende kriegerische Auseinandersetzung im Osten Europas, deren Ende nicht abzusehen ist. Damit verbunden waren und sind weiterhin erhebliche Störungen der Lieferketten, die sich nachteilig auf die betrieblichen Abläufe auswirkten und weiterhin auswirken. Hinzu kommen eine hohe Inflation und explodierende Energiepreise. Die Ampelkoalition hat vor diesem Hintergrund insbesondere an dem erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld – vollkommen zu Recht – festgehalten und dieses weiterhin (zumindest bis zum 30.06.2023) für Zeitarbeitnehmer geöffnet. Was danach kommt, bleibt offen.

Das Jahr 2022 darf mit Blick auf die veröffentlichte Rechtsprechung mit Fug und Recht als für die Überlassungsbranche bedeutsam qualifiziert werden, wurden doch zahlreiche Fragen in Zusammenhang mit der Überlassungshöchstdauer und – brandaktuell – mit der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch die Tarifwerke der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB) geklärt.

Die guten Nachrichten zuerst: Das BAG hat inzwischen zahlreiche Baustellen mit Blick auf die Überlassungshöchstdauer „abgeräumt“, indem Erfurt festgestellt hat, dass:

  • die gesetzliche Ermächtigung, durch einen Tarifvertrag von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten abzuweichen (§ 1 Abs. 1b S. 3 AÜG), europarechts- und verfassungskonform ist,
  • es sich bei § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG um eine vom Gesetzgeber außerhalb des TVG vorgesehene Regelungsermächtigung handelt, die den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche nicht nur gestattet, die Überlassungshöchstdauer abweichend von § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG verbindlich für tarifgebundene Kunden, sondern auch für Zeitarbeitsunternehmen und -arbeitnehmer mittels Tarifvertrags zu gestalten, ohne dass es auf deren Tarifgebundenheit ankommt. Damit hat das BAG gleichzeitig das sog. „Stuttgarter Kammertheater“ beendet, in dem zumindest die 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg noch vertreten hat, dass es einer übereinstimmenden Tarifbindung von Kundenunternehmen und Zeitarbeitnehmer bedürfe, um von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer wirksam abweichen zu können. Eine entsprechende Bewertung durch das BAG, die insbesondere an der Notwendigkeit einer übereinstimmenden Tarifgebundenheit des Kunden sowie des Zeitarbeitnehmers (und ggf. des Personaldienstleisters) angeknüpft hätte, hätte dazu geführt, dass die in zahlreichen Einsatzbranchen abgeschlossenen Tarifverträge zur Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer de facto leerlaufen würden. Dies hätte allerdings nicht mit der gesetzgeberischen Intention in Einklang gestanden, die Überlassungshöchstdauer durch Tarifverträge – und zwar unabhängig von der Tarifgebundenheit des Personaldienstleisters und/oder des Zeitarbeitnehmers – zu verlängern;
  • sich die im TV LeiZ vereinbarte Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten im Rahmen der gesetzlichen Regelungsbefugnis hält und folglich wirksam ist; damit ist zumindest geklärt, dass eine Verlängerung der Überlassungshöchstdauer von 18 auf 48 Monate zulässig ist. Sollte diese in anderen Fällen – tariflich festgelegt – über 48 Monate hinaus gehen, dürfte allerdings auch in Zukunft nicht ausgeschlossen sein, dass es zumindest Diskussionen über deren Wirksamkeit gibt, insbesondere unter Berücksichtigung der vom EuGH verlangten Missbrauchskontrolle (vgl. Urt. v. 17.03.2022 – C-232/20; dazu ausführlich: Bissels/Münnich/Krülls, ArbR 2022, 247 ff.);
  • die Übergangsregelung in § 19 Abs. 2 AÜG, nach der bei der Überlassungshöchstdauer nur ab dem 01.04.2017 geleistete Einsatzzeiten zu berücksichtigen sind, zwar europarechtswidrig, aber dennoch uneingeschränkt anzuwenden ist. Dies bedeutet, dass ab dem 01.04.2017 die Uhren mit Blick auf die Bestimmung des Zeitpunktes, wann die gesetzliche oder eine verlängerte Überlassungshöchstdauer erreicht wird bzw. werden kann, zulässigerweise genullt werden konnten (vgl. Urt. v. 24.05.2022 – 9 AZR 337/21).

Es handelt sich dabei um sehr erfreuliche Urteile mit dem erforderlichen Augenmaß, die für die Branche zunächst für Rechtssicherheit sorgen, auch wenn noch nicht alle Fragen beantwortet sind.

– Dr. Alexander Bissels

Dr. Alexander Bissels

Mit den Entscheidungen des BAG steht fest, dass zumindest eine tarifliche Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten rechtmäßig ist. Dies dürfte insbesondere in der M+E-Industrie für Erleichterung sorgen; denn der dort geltende und in der Praxis verbreitet angewendete TV LeiZ wurde durch Erfurt als wirksam anerkannt. Eine Baustelle weniger in der Zeitarbeit – und das ist gut so!

Auch in Zusammenhang mit der sog. Däubler-Kampagne gibt es Neuigkeiten mit Blick auf die Europarechtskonformität der gesetzlichen Bestimmungen zur Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz. Ob die gesetzlichen bzw. tariflichen Regelungen mit den Vorgaben der Zeitarbeitsrichtlinie übereinstimmen, wollte das BAG vom EuGH wissen und legte einen Rechtsstreit, in dem ein Zeitarbeitnehmer auf equal pay klagte, in Luxemburg vor. Im Wesentlichen geht es darum, ob die nationalen Regelungen den von der Richtlinie zu achtenden „Gesamtschutz“ der Zeitarbeitnehmer hinreichend beachten bzw. umsetzen. Am 14.07.2022 hat der Generalanwalt (GA) am EuGH Collins seine Schlussanträge veröffentlicht, die für die Zeitarbeit recht bedrohlich klingen, aber alles andere als überzeugend sind (dazu: Bissels/Singraven, DB 2022, 2089 ff.). Danach sei es erforderlich, dass Tarifverträge, durch die der Gleichstellungsgrundsatz abbedungen werde, in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Zeitarbeitnehmern gewährten, sodass deren Gesamtschutz geachtet werde. Hierbei sei eine konkrete Betrachtung vorzunehmen. Tarifverträge seien von den nationalen Gerichten dahingehend voll (!!!) überprüfbar, ob diese den Gesamtschutz achteten. Am 15.12.2022 hat der EuGH auf Grundlage der Schlussanträge des GA schließlich entschieden und sich diesen im Wesentlichen angeschlossen (Az. C-311/21). Auch der EuGH verlangt zur Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer tarifliche Ausgleichsvorteile für eine etwaige Entgeltdifferenz. Zwar sehen die gegenwärtig in der Praxis verwendeten Tarifwerke der Zeitarbeit diese nicht – zumindest nicht ausdrücklich – vor, dennoch dürfte aufgrund des konkret, d.h. bei jedem einzelnen Zeitarbeitnehmer für jeden Einsatz, durchführenden Vergleichs der Arbeitsbedingungen ein „Flächenbrand“ zunächst nicht drohen. Vielmehr müsste ein Zeitarbeitnehmer konkret darlegen, dass überhaupt eine Entgeltdifferenz besteht; dies kann sich bereits aus prozessualen Gründe als herausfordernd darstellen. Sollte dies gelingen, dürfte sich der Personaldienstleister damit verteidigen können, dass die tariflichen Arbeitsbedingungen an anderer Stelle für den Zeitarbeitnehmer vorteilhaft sind, so dass die Entgeltdifferenz ausgeglichen wird, z.B. durch einen höheren Urlaubsanspruch. Durch das Erfordernis einer konkreten Betrachtung dürfte das Risiko, dass sich die DRV der Sache annimmt, als gering zu bezeichnen sein – auch vor dem Hintergrund, dass im Zweifel der politische Wille fehlen dürfte, ein Szenario analog zur CGZP zu kreieren.

Im Weiteren muss nun abgewartet werden, wie das BAG die Vorgaben des EuGH in dem vorgelegten Rechtsstreit umsetzt – sodann wird man sicherlich klarer sehen! Dabei dürfte mit Spannung zu erwarten sein, wie das BAG die „Einhaltung des Gesamtschutzes“ konkretisiert. Der EuGH sieht als (relevanten) Ausgleichsvorteil den Umstand an, dass – unabhängig davon, ob ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht – einsatzfreie Zeiten vom Personaldienstleister bezahlt werden. Wenn das BAG diesen Gedanken aufgreifen würde, wäre ggf. schon eine elegante Brücke gebaut, um die europarechtlichen Anforderungen an den Gesamtschutz im Grundsatz als erfüllt anzusehen, zumal der EuGH an keiner Stelle in dem Urteil festlegt, dass die Tarifwerke der Zeitarbeit europarechtswidrig sind.

Im Jahr 2022 wurden – bedingt durch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns Tarifvertragsverhandlungen zwischen VGZ und der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit für die Entgeltgruppen 1 bis 2b, die bis dato unter 12,00 EUR brutto/Stunde gelegen haben, aufgenommen und erfreulicherweise auch erfolgreich abgeschlossen – verbunden mit einem „ordentlichen Schluck aus der Pulle“, aber immerhin – man hat sich mit einer Laufzeit bis zum 31.03.2024 verständigt.

Positiv zu bewerten ist zudem, dass in die Manteltarifverträge eine Regelung aufgenommen wurde, die eine Verlängerung der regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit der eingesetzten Zeitarbeitnehmer, freilich unter einigen begrenzend wirkenden Voraussetzungen, zulässt.

– Dr. Alexander Bissels

Wie geht es im Jahr 2023 weiter?

Das Jahr 2023 dürfte – aus Branchensicht leider – (wie so oft) mit einigen Unwägbarkeiten verbunden sein, aber daran hat man sich als Personaldienstleister wohl bereits gewöhnt. Die Entwicklung im Osten Europas, die Inflation, die Energiekosten usw. stellen zahlreiche Unwägbarkeiten dar, die sich auf die Wirtschaft in negativer Art und Weise auswirken werden – mit der Folge, dass im Jahr 2023 mit einer Rezession zu rechnen sein dürfte, die auch und insbesondere für Personaldienstleister spürbar werden wird. Gegenwärtig besteht ein erheblicher Mangel an Arbeitskräften und an Personal. Händeringend werden Mitarbeiter gesucht, die in Einsätze beim Kunden vermittelt werden können. Personaldienstleister dürfen aber nicht die Augen davor verschließen, dass sich die wirtschaftlichen Begleitumstände und damit der bisherige „Rückenwind“ im nächsten Jahr möglicherweise ändern können und es dann weniger um die zu vermittelnden Kandidaten, sondern eher um eine hinreichende Zahl an Aufträgen geht, in die überhaupt überlassen werden kann.

Zeitarbeitsunternehmen tun also gut daran, sich nicht nur auf die Suche von Personal, sondern auch von Kunden zu begeben, die bei einer sich abkühlenden Wirtschaft entsprechend bespielt und beliefert werden können – oder besser dürfen.

– Dr. Alexander Bissels

Auf der verbandsrechtlichen Ebene wird es ebenfalls spannend. Im Jahr 2022 haben die Gremien von BAP und iGZ beschlossen, in Verhandlungen einzutreten, um die beiden Verbände zusammenzuführen. Inhaltlich zweifelsohne richtig, um zukünftig mit einer Stimme, insbesondere im politischen Berlin, zu sprechen. Ob und wie sich die Verhandlungen entwickeln, bleibt abzuwarten. Die ein oder andere Frage dürfte es dabei zu klären geben, aber sicherlich auch einer angemessenen Lösung unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Forderungen der Mitglieder beider Verbände zugeführt werden. Es gilt der Grundsatz: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!"

Politisch könnte es interessant werden, denn es wurden (endlich!) die Ergebnisse der Evaluation des AÜG nach der Reform 2017 (vgl. § 20 AÜG) veröffentlicht. Gerade in Zusammenschau mit der Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 und der zu erwartenden Umsetzung der Vorgaben durch das BAG ist nicht auszuschließen, dass der Gesetzgeber doch noch einmal die (gesetzlichen) Spielregeln ändern wird. Dies hat sich die Ampel im Koalitionsvertrag vorbehalten. Dort heißt es – wir erinnern uns – wörtlich: „Beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz prüfen wir im Falle einer europäischen Rechtsprechung, ob und welche gesetzlichen Änderungen unter Berücksichtigung der Gesetzesevaluierung vorzunehmen sind. […]“ Es bleibt abzuwarten, ob durch die Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 und der Evaluierung ein entsprechend politischer Handlungsdruck oder auch -wille aufgebaut wird, der dann möglicherweise in der Umsetzung ebenfalls die Tarifvertragsparteien auf den Plan rufen dürfte.

Von der Rechtsprechung dürften im Jahr 2023 weiterhin Impulse ausgehen, die einen „Impact“ auf die Arbeitnehmerüberlassungsbranche haben dürften. Beim EuGH ist nach wie vor das Vorlageverfahren zur Europarechtskonformität der Bereichsausnahme nach § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG zur Personalgestellung anhängig. Sollte sich diese als europarechtswidrig herausstellen, dürfte das gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes verbreitete Modell der dauerhaften Personalgestellung über die dort geltenden Tarifverträge (u.a. TVöD) erledigt haben – mit allen Konsequenzen für die Vergangenheit und Zukunft, die sich aus einer dann an sich erlaubnispflichtigen Arbeitnehmerüberlassung (unter Beachtung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer und der Beachtung des Gleichstellungsgrundsatzes) ergeben werden. Auch die übrigen vom Gesetzgeber in § 1 Abs. 3 AÜG vorgesehenen Bereichsausnahmen dürften dann nicht mehr zu halten sein. Dies dürfte wohl endgültig den Gesetzgeber auf den Plan rufen, der – wenn er das AÜG dann „anpackt“ – ggf. auch zu einem „größeren Wurf“ ausholt und möglicherweise ergänzend in Zusammenhang mit der Überlassungshöchstdauer und/oder equal pay nachschärft.

Vor diesem Hintergrund dürfte das Jahr 2023 aus Sicht der Arbeitnehmerüberlassungsbranche (leider) nicht langweilig werden.

 

Dieser Artikel wurde von Dr. Alexander Bissels erstellt und zunächst im „Infobrief Zeitarbeit“ veröffentlicht.

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