„Wir sind die Feuerwehr im Gesundheitssystem.“
- Die Vermittlungsplattform für medizinisches Personal in der Zeitarbeit doctari bringt Ärzt*innen und Pflegekräfte mit Kliniken zusammen, die akuten Personalbedarf haben. Die Abwicklung erfolgt dabei digital und rechtssicher.
- Prof. Dr. Cai-Nicolas Ziegler, Geschäftsführer von doctari, erklärt im Interview, warum er Zeitarbeit als sinnvolle Ergänzung zur Festanstellung versteht, die insbesondere für Fachkräfte mit dem Wunsch nach mehr Flexibilität und Selbstbestimmung attraktiv sein kann.
- Neben den Chancen spricht Ziegler auch über Kritik an der Zeitarbeit, besonders im Pflegebereich, über die Auswirkungen der Klinikreform, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und darüber, wie doctari mit seinem Modell auf dem angespannten Arbeitsmarkt bestehen will.
arbeitsblog: Herr Prof. Dr. Ziegler, erklären Sie uns bitte in wenigen Sätzen das Geschäftsmodell von doctari. Was macht Ihre Plattform besonders?
Cai-Nicolas Ziegler: Unser Ziel ist es, medizinisches Fachpersonal dort einzusetzen, wo es am dringendsten gebraucht wird – schnell, rechtssicher und passgenau. Man kann sich unsere Rolle ein bisschen wie eine Feuerwehr im Gesundheitswesen vorstellen: Wenn akuter Personalmangel herrscht, sorgen wir dafür, dass Operationen nicht ausfallen und die Versorgung aufrechterhalten bleibt.
Kliniken melden uns über Telefon, E-Mail oder unsere Plattform ‚doctari pro‘ ihren Personalbedarf, zum Beispiel eine Anästhesistin für einen Tagdienst. Wir greifen dann auf unseren Pool aus über 65.000 qualifizierten Ärztinnen und Ärzten sowie rund 40.000 Pflegefachkräften zurück – den größten dieser hohen Qualität und fachlichen Expertise in Deutschland. Nach Abgleich von Qualifikation, Verfügbarkeit und Ort schlagen wir der Klinik drei passende Profile vor. Wenn sich beide Seiten einig sind, schließen wir einen Einsatzvertrag mit der Fachkraft und einen Überlassungsvertrag mit der Klinik. Auch um Unterkunft und Begleitung während des Einsatzes kümmern wir uns auf Wunsch.
Unsere digitale Lösung ‚doctari pro‘ bietet Kliniken zudem Transparenz über Verträge und Einsätze. Das Konzept ist vergleichbar mit Personio, nur eben für medizinische Zeitarbeit.
arbeitsblog: Warum sehen Sie die Zeitarbeit – insbesondere in der Medizin – als zukunftsfähiges Arbeitsmodell?
Cai-Nicolas Ziegler: Auch wenn der Anteil an Zeitarbeitskräften im Medizinbereich mit aktuell rund 1,7 Prozent eher gering ist, bin ich überzeugt: Der Bedarf wird steigen. Durch den demografischen Wandel werden wir künftig deutlich weniger Ärztinnen und Ärzte haben – und gleichzeitig mehr Patientinnen und Patienten.
Zeitarbeit im Gesundheitswesen verlangt den Einsatzkräften viel ab: teils lange Anreise zum Einsatzort, Übernachtungen in Hotels und getrennt von Familie und Freunden. Etwa die Hälfte der Einsätze dauert nur ein bis zwei Tage – das muss man mögen. Aber es gibt viele, die genau diese Abwechslung und Freiheit schätzen. Für sie ist es nicht nur ein Job-, sondern viel mehr ein Lebensmodell.
Zeitarbeit ist für viele Ärztinnen und Pflegekräfte mehr als ein Arbeitsmodell. Sie bietet die Freiheit, den Beruf so zu gestalten, wie es zur eigenen Lebenssituation passt.
arbeitsblog: Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Vorteile für medizinisches Fachpersonal? Warum sollte man sich für eine Vermittlung über doctari entscheiden – gerade bei der aktuell hohen Nachfrage nach Festanstellungen?
Cai-Nicolas Ziegler: Viele Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegekräfte steigen für eine bestimmte Lebensphase bei uns ein, etwa während der Vorbereitung auf die Facharztprüfung oder wenn sie, statt sich in den Ruhestand zu verabschieden, einige Schichten im Monat aktiv im Berufsleben bleiben möchten. Manche wollen sich vor einer Niederlassung mehr Zeit und finanziellen Spielraum verschaffen. Andere kombinieren den Einsatz über doctari sogar mit einer Festanstellung.
Was sie alle schätzen: Zeitarbeit bedeutet mehr Selbstbestimmung, bessere Verdienstmöglichkeiten und vor allem einen riesigen Erfahrungsgewinn. Ärztinnen und Ärzte sehen bei uns in kurzer Zeit unglaublich viel – das erweitert den Horizont.
arbeitsblog: Die jüngere Generation legt zunehmend Wert auf Flexibilität und Work-Life-Balance. Wie passt das mit wechselnden Einsatzorten und weiten Anfahrtswegen zusammen?
Cai-Nicolas Ziegler: Gerade die Generation, die nach mehr Freiheit strebt, findet in Zeitarbeit oft die ideale Lösung. Zwar bedeutet das Modell auch Reiseaufwand, aber dafür kann man sich die Einsätze flexibel zusammenstellen. In unserer App lassen sich Aufträge von einzelnen Tagen bis zu mehreren Monaten ganz individuell planen. Wir ermöglichen echte Flexibilität – im Gegensatz zu vielen starren Klinikplänen.
arbeitsblog: Und wie profitieren die Kliniken? Ist die wiederholte Einarbeitung von wechselnden Fachkräften nicht mit Nachteilen verbunden?
Cai-Nicolas Ziegler: Natürlich bringt Zeitarbeit auch Herausforderungen mit sich, etwa beim Onboarding. Aber der Nutzen überwiegt: Kliniken müssen ihre OP-Kapazitäten auslasten, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Ein ausgefallener Eingriff wegen Personalmangel ist da schlicht keine Option.
Gerade bei kurzfristigen Ausfällen – wenn jemand krank wird und die Schicht in weniger als 72 Stunden beginnt – können wir in 90 Prozent der Fälle deutschlandweit eine passende Fachkraft stellen. Von der Anfrage bis zur Vertragsunterschrift vergehen bei uns im Schnitt nur 35 Minuten.
Ohne flexible Einsatzkräfte wie unsere würde das System in vielen Situationen kollabieren. Wir ersetzen keine Strukturen, wir halten sie am Laufen.
arbeitsblog: Zeitarbeit im Gesundheitswesen steht politisch immer wieder unter Druck. Wie gehen Sie mit der Debatte um mögliche Einschränkungen oder Verbote um?
Cai-Nicolas Ziegler: Die Diskussionen betreffen vor allem den Pflegebereich. Dort ist der Anteil an Zeitarbeit in der Vergangenheit stark gewachsen, was vielerorts zu höheren Kosten und strukturellen Verschiebungen geführt hat. Die Kritik konnte ich nachvollziehen. Inzwischen ist aber der Anteil wieder rückläufig. Hinzu kommt, dass ein Verbot in der Pflege auch rechtlich nicht möglich ist, wie zuletzt ein Auftrag für ein Gutachten bei dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gezeigt hat.
Bei Ärztinnen und Ärzten ist die Lage anders: Ihr Anteil in der Zeitarbeit liegt konstant bei rund 1,4 Prozent. Hier ersetzen wir keine Strukturen – wir verhindern Notfälle. Ohne uns würden ganze Versorgungsketten zusammenbrechen. Insofern sehen wir die Debatte relativ entspannt.
arbeitsblog: Wie bewerten Sie die Krankenhaus-Reform, die noch von der Ampel-Regierung auf den Weg gebracht wurde?
Cai-Nicolas Ziegler: Die Reformen greifen in vielerlei Hinsicht zu kurz. Zwar ist es richtig, die Anzahl an Kliniken kritisch zu hinterfragen – aber der ländliche Raum wurde dabei leider nicht ausreichend mitgedacht. Außerdem erschwert die zunehmende Spezialisierung den flexiblen Personaleinsatz, weil bestimmte Qualifikationen nicht mehr überall benötigt werden.
Wir sind gespannt, welchen Kurs die neue Gesundheitsministerin einschlagen wird. Klar ist: Ohne finanzielle Anreize lässt sich das System nicht verbessern.
arbeitsblog: Welche Rolle spielt die Digitalisierung für Ihr Geschäftsmodell – und wie nutzen Sie bereits Künstliche Intelligenz?
Cai-Nicolas Ziegler: Digitalisierung ist für uns essenziell. Ein Beispiel: Künstliche Intelligenz nutzen wir vor allem im Matching-Prozess. Über unsere App können Kandidatinnen und Kandidaten per Sprache ihre Einsatzwünsche eingeben. Gleichzeitig können Kliniken detaillierte Anforderungsprofile formulieren. Die KI findet dann nicht nur passende Matches, sondern erstellt auch eine Begründung, warum die jeweilige Fachkraft geeignet ist. Das spart Zeit und erhöht die Trefferquote deutlich.
Die klassische Festanstellung wird bleiben, aber wir brauchen ergänzende Modelle, um den steigenden Bedarf in der Medizin bewältigen zu können.
arbeitsblog: Wohin entwickelt sich doctari in den kommenden Jahren?
Cai-Nicolas Ziegler: Wir wollen Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften die Flexibilität geben, die sie brauchen, sei es für eine kurze Phase im Berufsleben oder dauerhaft. Über unsere App können sie ihren Arbeitsalltag selbst gestalten: Einsätze von wenigen Minuten bis zu mehreren Monaten, regional oder deutschlandweit. Genau das verstehen wir unter „Brave New Work“ im Gesundheitswesen: mehr Selbstbestimmung, mehr Anpassungsfähigkeit, ohne den Anspruch auf Qualität und Sicherheit zu verlieren.
Festanstellungen wollen wir nicht ersetzen. Sie bleiben die Regel und haben ihre Vorteile, etwa bei Planbarkeit und Teamstrukturen. Aber: Der medizinische Arbeitsmarkt verändert sich, Fachkräfte werden knapper und die Anforderungen steigen. Deshalb braucht es ergänzende Modelle wie unseres, die zu den individuellen Lebensentwürfen passen und das System insgesamt resilienter machen.
arbeitsblog: Vielen Dank für das nette Gespräch!