26.07.2022 Alexander Bissels

„Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer“: Was ergibt sich aus den Schlussanträgen des Generalanwalts für die Branche?

  • Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat sich in seinen Schlussanträgen zur möglichen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz geäußert.
  • Diese hält er zwar grundsätzlich für möglich – allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen.
  • Dr. Alexander Bissels, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Hasche Sigle, schätzt die Anforderungen des Generalanwalts als herausfordernd ein.

Langsam geht es in Luxemburg für die Zeitarbeitsbranche beim EuGH „um die Wurst“ (Az. C-311/21) – nämlich in Zusammenhang mit einem Vorlageverfahren des BAG. Dieses hat dem EuGH zahlreiche Fragen in Zusammenhang mit der in Deutschland die Zeitarbeitsbranche prägenden Möglichkeit gestellt, vom grundsätzlich verpflichtenden Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge abzuweichen.

Warum ist dies überhaupt relevant? Weil sich – je nach Ausgang des Verfahrens und der „Umsetzung“ durch den EuGH und letztendlich durch das BAG – nicht unerhebliche Nachzahlungsansprüche ergeben können, die sich sowohl gegen den Personaldienstleister als auch den Kunden richten können.

Was sagt der Generalanwalt?

Seit dem 14.07.2022 liegen die Schlussanträge des Generalanwalts vor. Daraus lässt sich – kurz gesprochen – Folgendes ableiten:

Die Sozialpartner könnten im Wege eines Tarifvertrags vom Grundsatz der Gleichstellung in Bezug auf das Arbeitsentgelt zulasten von Zeitarbeitnehmern abweichen. Voraussetzung sei allerdings, dass die Tarifverträge hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Zeitarbeitnehmern gewähren würden, so dass deren Gesamtschutz geachtet werde. Dabei stellt der Generalanwalt dar, dass – wörtlich – eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt, beispielsweise durch ein Geschenk aus der Werbeabteilung, nicht wirksam ausgeglichen werden könne. Weiter führt der Generalanwalt aus, dass z.B. ein um 50 % geringeres jährliches Arbeitsentgelt nicht durch die Gewährung eines zusätzlichen jährlichen Urlaubstags kompensiert werden könne. Auch wenn Arbeitsentgelt und Urlaub wesentliche Beschäftigungsbedingungen darstellen würde, dürfte – so der Generalanwalt – eine solche Abweichung beim Arbeitsentgelt gegenüber dem Wert des Ausgleichsvorteils unverhältnismäßig sein.

Es kommt einer Quadratur des Kreises gleich, in einem Tarifvertrag Ausgleichsvorteile vorzusehen, wenn unklar ist, bei welchen Kunden der Zeitarbeitnehmer eingesetzt wird und welche Arbeitsbedingungen dort gelten, die wiederum als Maßstab für die bereits vorher festzulegenden tariflichen Ausgleichsvorteile dienen sollen.

– Dr. Alexander Bissels

Dr. Alexander Bissels

Auf Grundlage dieser Antwort des Generalanwalts dürfte es zumindest als herausfordernd zu bezeichnen sein, in den gängigen Tarifwerken, die zur Abweichung von dem Gleichstellungsgrundsatz in der Zeitarbeit verwendet werden, einen solchen Ausgleich – zumindest ausdrücklich – zu identifizieren.

Das Problem wird durch die Anforderung des Generalanwalts verschärft, dass keine abstrakte, sondern eine konkrete Betrachtung hinsichtlich der tariflichen Ausgleichsvorteile zur Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer erforderlich sein soll. Diese Voraussetzung dürfte mit Blick auf die für die Arbeitnehmerüberlassung typische Einsatzwechseltätigkeit und die abstrakt-generellen Regelungen in einem Tarifvertrag zumindest als ausgesprochen schwierig umsetzbar zu bezeichnen sein. Es kommt einer Quadratur des Kreises gleich, in einem Tarifvertrag Ausgleichsvorteile vorzusehen, wenn unklar ist, bei welchen Kunden der Zeitarbeitnehmer eingesetzt wird und welche Arbeitsbedingungen dort für einen Vergleichsmitarbeiter konkret gelten, die wiederum als Maßstab für die bereits vorher festzulegenden tariflichen Ausgleichsvorteile dienen sollen.

Ein „Anker“ könnten die tariflichen Branchenzuschläge darstellen, die über ein „tarifliches equal pay“ eine mögliche Entgeltdifferenz zwischen Stammbeschäftigten und Zeitarbeitnehmer ausgleichen sollen. Problematisch ist dabei bereits, dass diese – zumindest nach dem gegenwärtigen Status – nicht flächendeckend vorgesehen sind, sondern nur für einige Branchen gelten, z.B. die M+E- und die Chemische Industrie. Ggf. mag eine solche „Konstruktion“ ein denkbarer Lösungsansatz für die Zukunft darstellen; dies ist jedoch allenfalls denkbar, wenn ein Branchenzuschlag flächendeckend gezahlt wird, was aufgrund der Vielschichtig- und Unterschiedlichkeit der Einsatzbereiche von Zeitarbeitnehmern nur erschwert abzubilden sein dürfte. Darüber hinaus müssten sämtliche an den maßgeblichen Tarifwerken beteiligten und in der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit organisierten DGB-Gewerkschaften „mitziehen“. Dies dürfte insbesondere bei ver.di mit einer gewissen „Überzeugungsarbeit“ verbunden sein. Darüber hinaus scheint der Generalanwalt zu verlangen, dass eine Abweichung vom Entgelt durch einen anderen Vorteil, der nicht in Form von Vergütung gewährt wird, ausgeglichen werden muss, z.B. durch einen längeren Urlaub. Der Branchenzuschlag ist aber ein Bestandteil des Entgelts im engeren Sinne, so dass bereits fraglich sein kann, ob dieser – nach Lesart des Generalsanwalts – überhaupt einen Ausgleichsvorteil darstellen kann – es bleiben also (zunächst) zahlreiche Fragen offen.

Es bleibt weiterhin spannend

Zudem stellt der Generalanwalt in den Schlussanträgen klar, dass

  • die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von vom Grundsatz der Gleichstellung abweichenden Tarifverträgen in Bezug auf Zeitarbeitnehmer geben könnten, die in einem befristeten Arbeitsvertrag mit einem Personaldienstleister stünden. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag – wie es teilweise vertreten wird – ist folglich nicht erforderlich, so dass auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz rechtlich möglich und zulässig wäre,
  • die nationalen Rechtsvorschriften keine detaillierten, von den Sozialpartnern zu erfüllenden Bedingungen und Kriterien für die vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge vorgeben müssten, sofern die Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern sichergestellt sei – das AÜG ist insoweit nach Ansicht des Generalanwalts also europarechtskonform,
  • die von den Sozialpartnern geschlossene Tarifverträge durch die nationalen Gerichte gerichtlich daraufhin überprüfbar seien, dass sie den Gesamtschutz von Zeitarbeitnehmern achteten. Es soll nach Ansicht des Generalanwalts eine umfängliche Kontrolle ohne einen einschränkenden Prüfmaßstab stattfinden; von abgeschlossenen Tarifverträgen soll keine Richtigkeitsgewähr ausgehen, wie es im Tarifrecht bisher – zumindest aus „deutschrechtlicher Brille“ – überwiegend vertreten wurde bzw. wird.

Insbesondere der vom Generalanwalt verlangte „tarifliche Ausgleichsvorteil“ – kombiniert mit einer konkreten Betrachtung – dürfte zumindest als herausfordernd zu bezeichnen sein. Die Schlussanträge dürften – trotz der auch positiven Erkenntnisse – damit als „ambivalent“ zu bezeichnen sein. Es bleibt zunächst abzuwarten, wie der EuGH auf diese reagieren wird und ob er diesen folgt. Verpflichtet dazu ist der Gerichtshof dazu nicht.

Selbst wenn dies der Fall wäre, ist damit das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielmehr ist es dann am BAG, die Vorgaben des EuGH umzusetzen und konkret anzuwenden. Es bleibt daher weiterhin – aus Sicht der Zeitarbeitsbranche – unnötig spannend! Die letzte Messe in der Sache ist vor diesem Hintergrund noch nicht gesungen. Vielmehr stellen die Schlussanträge des Generalanwalts nur eine weitere Etappe zur Klärung der vom BAG vorgelegten Fragen dar. Nun sind die Gerichte am Zug, dann wird man weitersehen.

Den Volltext der Schlussanträge von Anthony Collins finden Sie hier:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62021CC0311&from=de

 

Dieser Artikel wurde von Dr. Alexander Bissels erstellt und zunächst in der Xing-Gruppe „Moderne Zeitarbeit – iGZ“ veröffentlicht.

 

Dr. Alexander Bissels

Dr. Alexander Bissels ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Hasche Sigle. Er berät Unternehmen auf sämtlichen Gebieten des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, insbesondere zu Fragen im Bereich des Fremdpersonaleinsatzes (Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag). Dr. Bissels ist Autor zahlreicher Publikationen, u.a. Mitherausgeber eines Standardkommentars zum AÜG. Darüber hinaus hält er regelmäßig Vorträge zu aktuellen arbeitsrechtlichen Themen.

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