11.08.2020 Alexander Bissels

MTV iGZ/DGB: Müssen Urlaubszeiten für Mehrarbeitszuschläge berücksichtigt werden?

  • Dr. Alexander Bissels, Partner bei CMS Hasche Sigle, analysiert heute einen Fall, der über die „Zwischenstationen“ LAG Hamm und BAG nun beim EuGH angelandet ist
  • Im Kern geht es dabei um die Frage: Müssen nach dem MTV iGZ/DGB Urlaubszeiten für Mehrarbeitszuschläge berücksichtigt werden? Oder beziehen sich die im MTV genannten „geleisteten Stunden“ ausschließlich auf ein aktives Tun?
  • Dr. Bissels hält die Rechtsprechung in diesem Fall für zukunftsweisend: „Nach einer höchstrichterlichen Sachentscheidung muss die Rechtsprechung in Zukunft beachtet werden, um sich als Personaldienstleister nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, dass die in den Tarifwerken der Zeitarbeit vorgesehenen Mindestarbeitsbedingungen nicht oder nicht richtig gewährt werden.“

Wird eine tariflich festgelegte Belastungsgrenze zur Bestimmung, ob eine Zuschlagspflicht für Mehrarbeit besteht, nur unter Berücksichtigung der aktiv geleisteten Stunden berechnet? Oder sind in diesem Zusammenhang auch „inaktive Zeiten bei gleichzeitiger Fortzahlung der Vergütung“, zum Beispiel im Rahmen des Urlaubs, zugunsten des Mitarbeiters zu berücksichtigen?

Mit dieser Frage musste sich das LAG Hamm bereits im Jahr 2018 im Anwendungsbereich des Manteltarifvertrags Zeitarbeit (MTV iGZ/DGB) befassen (Urt. v. 14.12.2018 – 13 Sa 589/18; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 3). Mehrarbeitszuschläge knüpfen dabei gem. 4.1.2. MTV iGZ/DGB an die von dem Arbeitnehmer in einem Monat „geleistete Stunden“ an. Gegen dieses Urteil wurde Revision zum BAG eingelegt. In der Sache ist eine Sachentscheidung nach der inzwischen vorliegenden Pressemitteilung ausgeblieben; vielmehr hat der 10. Senat den EuGH angerufen (Beschl. v. 17.06.2020 – 10 AZR 210/19 (A).

Der Sachverhalt stellt sich zusammengefasst wie folgt dar:

Zwischen den Parteien besteht seit Januar 2017 ein Arbeitsverhältnis. Sie waren im streitigen Zeitraum an den MTV iGZ/DGB gebunden. Dieser regelt, dass Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 25 Prozent für Zeiten gezahlt werden, die im jeweiligen Kalendermonat über eine bestimmte Zahl geleisteter Stunden hinausgehen. Der Kläger macht Mehrarbeitszuschläge für August 2017 geltend, in dem er 121,75 Stunden tatsächlich gearbeitet hat. Daneben hat er in diesem Monat in der Fünftagewoche für zehn Arbeitstage Erholungsurlaub in Anspruch genommen. Die Beklagte hat dafür 84,7 Stunden abgerechnet. Die tarifvertragliche Schwelle, die überschritten werden muss, damit in diesem Monat Mehrarbeitszuschläge zu leisten sind, liegt bei 184 Stunden. Der Kläger meint, ihm stünden Mehrarbeitszuschläge zu, weil auch die für den Urlaub abgerechneten Stunden einzubeziehen seien.

Beziehen sich „geleistete Stunden“ ausschließlich auf ein aktives Tun?
Nach Auffassung des LAG Hamm waren bei der Berechnung von tariflichen Mehrarbeitszuschlägen für August 2017 die in diesem Monat angefallenen Urlaubszeiten im Umfang von 84,7 Stunden unberücksichtigt zu lassen. Der in § 4.1.2. MTV iGZ/DGB verwendete Begriff „geleistete Stunden“ sei ausschließlich auf ein aktives Tun ausgerichtet. Urlaubszeiten, in denen der Arbeitnehmer davon unter Fortzahlung seiner Vergütung befreit sei, ließen sich bei Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht unter den Wortlaut der Bestimmung subsumieren. Diese Auslegung entspreche auch dem erkennbaren Zweck der Tarifnorm. Mehrarbeitszuschläge sollten nämlich regelmäßig besondere Belastungen abdecken, die mit einem – grundsätzlich zu vermeidenden – überdurchschnittlichen tatsächlichen Arbeitseinsatz verbunden seien. Da derartige Erschwernisse bei Urlaubszeiten im Bemessungszeitraum nicht auftreten könnten, sei es sachgerecht, bei der tariflich vorgegebenen Belastungsgrenze für die Gewährung von Mehrarbeitszuschlägen ausschließlich auf die tatsächlich vom Arbeitnehmer geleisteten Stunden abzustellen.

Das BAG hat das Verfahren in der vom Zeitarbeitnehmer eingelegten Revision nun dem EuGH vorgelegt. In der Pressemitteilung heißt es wie folgt:

„Ein Tarifvertrag, der für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt, könnte gegen Unionsrecht verstoßen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Der 10. Senat des BAG ersucht den EuGH zu klären, ob die tarifliche Regelung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG vereinbar ist. Die Auslegung des Tarifvertrags lässt es nicht zu, Urlaubszeiten bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen. Klärungsbedürftig ist, ob der Tarifvertrag damit einen unionsrechtlich unzulässigen Anreiz begründet, auf Urlaub zu verzichten.“

So bewertet Dr. Bissels die Sachlage:

Inhaltlich folgt das BAG der auch vom LAG Hamm und in der Literatur vertretenen Ansicht (vgl. Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 3), dass das Tarifwerk iGZ/DGB Urlaubszeiten zur Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nicht einschließt. Es sieht sich aber aus europarechtlichen Erwägungen an einer Sachentscheidung gehindert und ruft vor diesem Hintergrund den EuGH an, damit dieser klärt, ob eine solche tarifvertragliche Gestaltung mit dem Europarecht vereinbar ist. Die konkret vom BAG an den EuGH gerichtete Frage lautet wie folgt:

"Stehen Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt?"

Es bleibt nun abzuwarten, wie der EuGH die vorgelegte Frage beantworten wird, die sich – laut der obigen Formulierung – ausschließlich auf den gesetzlichen Mindesturlaub, nicht aber auf den übergesetzlich gewährten tariflichen Mehrurlaub bezieht.

Auf dieser Grundlage wird das BAG sodann eine Sachentscheidung treffen. Sieht der EuGH keinen Konflikt mit dem europäischen Recht, bleibt es bei der tariflichen Regelung und die Revision des Zeitarbeitnehmers dürfte zurückgewiesen werden. Sollte der EuGH jedoch ein „europarechtliches Haar in der Suppe“ finden und feststellen, dass die tariflichen Bestimmungen die Grundrechtecharta und/oder die Arbeitszeitrichtlinie nicht oder nicht hinreichend berücksichtigen, ist nicht ausgeschlossen, dass der Zeitarbeitnehmer mit seiner Klage durchdringen wird und das Zeitarbeitsunternehmen insoweit zu einer Nachgewährung der bislang abgelehnten Mehrarbeitszuschläge verpflichtet ist. Bei einem Verstoß der tariflichen Bestimmungen des Tarifwerk iGZ/DGB gegen europarechtliche Vorgaben ist nicht auszuschließen, dass diese unangewendet bleiben müssen (sog. Anwendungsvorrang des Unionsrechts), wenn und soweit diese nicht europarechtskonform ausgelegt werden können (vgl. dazu: BVerfG v. 06.10.2010 – 2 BvR 2661/06; BAG v. 30.09.2010 – 2 AZR 456/09). Problematisch ist dabei insbesondere, dass § 4.1.2. MTV iGZ/DGB an "geleistete" Stunden anknüpft (wie auch § 6 MTV BAP/DGB); daraus wird nach bisheriger Lesart geschlussfolgert, dass während des Urlaubs gerade keine für die Mehrarbeitszuschläge relevante Arbeitszeit geleistet wird. Eine Lösung könnte bei einer (möglicherweise) vom EuGH festgestellten Europarechtswidrigkeit sein, dass die beschränkende Formulierung "geleistet" schlichtweg aus der tariflichen Bestimmung "herauszulesen" ist und folglich auch inaktive Zeiten der Zeitarbeitnehmer bei der Berechnung der Belastungsgrenze bei den Mehrarbeitszuschlägen Berücksichtigung finden müssen.

Fazit

Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung muss dabei genau beobachtet werden, da nach einer entsprechenden höchstrichterlichen Sachentscheidung diese zumindest für die Zukunft beachtet werden muss, um sich als Personaldienstleister nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, dass die in den Tarifwerken der Zeitarbeit vorgesehenen Mindestarbeitsbedingungen (hier: Zuschläge wegen Mehrarbeit) nicht oder nicht richtig gewährt werden. Dies kann im Zweifel erlaubnisrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen. Für die Vergangenheit können Nachforderungsansprüche von Zeitarbeitnehmern entstehen; dieses (finanzielle) Risiko dürfte – zumindest bei wirksam vereinbarten Ausschlussfristen – begrenzt sein. Schwerer wiegt hingegen, dass durch entsprechende Urteile die DRV auf den Plan gerufen werden könnte. Selbst wenn etwaige Ansprüche auf Nachzahlung von den Zeitarbeitnehmern nicht geltend gemacht worden und diese verfallen oder sogar verjährt sind, können zumindest für die letzten vier Jahre noch Sozialversicherungsbeiträge auf nicht gewährte Mehrarbeitszuschläge nachverlangt werden. Diese sind nämlich grundsätzlich lohnsteuer- und damit auch sozialversicherungspflichtig. Über die weitere Entwicklung werden wir Sie natürlich unterrichten!


Dieser Beitrag wurde von Dr. Alexander Bissels erstellt und erschien zuerst im Newsletter „Infobrief Zeitarbeit“.


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